Prosa

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    Tierquälerei oder Abi

    Dann endet also heute meine Schulpflicht. Ich krieche aus meiner Schlafkoje und schlüpfe in die Plüschpantoffeln, die auf dem Boden liegen. Auf dem kleinen Tisch in der Kochnische liegen ein Briefumschlag, eine Rose und ein nicht aufgeblasener Luftballon, der eine große 16 darstellen soll.Euch auch einen guten Morgen. Meine Mutter wird mit den Hunden draußen sein, mein Vater hilft wahrscheinlich schon beim Saubermachen des Zeltinnenraums und meinen Bruder interessiert sowieso niemand außer seiner Lena. Ich gieße mir lauwarmen Filterkaffee in meine Diddl-Tasse, setze mich und öffne den Briefumschlag. 

    Im Bus zur Gesamtschule, die ich seit 2 Wochen besuche, werde ich von allen, die in meiner Stufe sind, angestarrt. Wahrscheinlich wissen sie, dass ich heute Geburtstag habe, Frau Schmiede hat sich verplappert. Ich setze mich neben Toni, die sofort näher ans Fenster rückt und mich irgendwie komisch anlächelt. „Hast du Englisch gemacht?“, frage ich sie. Toni zieht die Schultern hoch und guckt stur aus dem Fenster. Bestimmt hat sie vergessen,Zähne zu putzen. 

    In der Cafeteria kaufe ich mir ein Laugenbrötchen und eine Packung Airwaves und bezahle mit dem 20€-Schein aus dem Briefumschlag. Kauend steige ich die Treppe bis in den zweiten Stock hoch und stelle mich neben Toni, die schon vor dem Englischraum an der Wand lehnt. Wortlos halte ich ihr die Kaugummis hin, doch sie schüttelt den Kopf. „Ist irgendwas?“, frage ich, woraufhin sie wieder mit den Schultern zuckt. Misses Stüttgen schließt uns den Raum auf, ich gehe zu meinem Platz, legemeinen Rucksack auf den Tisch und setze mich. Als ich meinen Kopf hebe, sehe ich, dass jemand „TIERQUÄLER“ auf die Tafel geschmiert hat. „Was soll das, wer war das?“, fragt Misses Stüttgen. „In english please“, kommt es aus der letzten Reihe. Moritz, Klassenclown und Wackelkanditat. „Das richtet sich an eine Person hier“, sagt ein Mädchen vorne rechts, ich glaube, sie heißt Luisa. „In diesem Raum sitzt eine Person, deren Familie Tiere quält.“ Jetzt ist sie aufgestanden, alle schauenzu ihr. „FionasEltern sind dafür verantwortlich, dass Kamele, Esel und Kaninchen eingesperrt werden und Kunststücke vollführen müssen.“ Als mein Name fällt, fühlt es sich an als hätte mir jemand auf die Nase geboxt. „Ich möchte, dass ihr beide das woanders klärt“, sagt Misses Stüttgen. 

    Fast schon rennend verlasse ich das Büro des Schulleiters und ziehe mein Handy aus der Jackentasche. Mit der linken Hand wische ich mir die Tränen von den Wangen, „Hey Siri, ruf Mama an“.Es tutet sechs Mal, dann lege ich auf. Ich gehe zum Steinkreis hinter der Schule und setze mich auf eine der Bänke. Mein Oberkörper zittert, Rotze tropft auf meine Jeans. „Brauchstn Taschentuch?“. Erschrocken blicke ich die ältere Frau an, die vor mir steht und mir eine Packung Kokett hinhält. Ich zwinge mich, zu lächeln und greife nach der Packung. Als ich 

    mich schnäuze, fragt die Frau, ob ich darüber reden möchte. Ich schüttle den Kopf, keuche und fange dann doch an, zu erzählen. 

    „Klingt, als müsstest du da mal mit deinen Eltern drüber reden“, sagt die Frau, als ich ihr von meinem bisherigen Geburtstag berichtet habe. „Hab‘ ich ja versucht, meine Mama geht nicht ran, mein Vater lässt sein Handy eh immer im Wohnwagen liegen und jetzt sitz ich hier“, antworte ich. „Meine Eltern quälen keine Tiere, wir haben halt welche. Die Tiere wären doch sonst auch nur im Zoo und nicht in der Wildnis. Wieso dürfen wir sie nicht trainieren, ich check das nicht“. Die Frau, die mittlerweile neben mir Platz genommen hat, guckt jetzt ernster. „Naja, die Tiere leiden schon, denk ich. Deine Klassenkameradin hat da schon Recht“, sagt sie. „Und was soll ich daran ändern?“, frage ich, „was soll ich machen, wenn ich im Frühling in Vollzeit im Zirkus arbeite, ich soll da Kamelreiten machen, meine Eltern wollen das so!“. „Gehst du dann nicht mehr zur Schule?“ –„Ist mein letztes Halbjahr, bin ja seit heute 16“. Ob ich denn nicht gern weiter zur Schule gehen würde, möchte die Frau wissen. „Die Schule find ich furchtbar. Ständig neue Leute, alle sind gemein, ich bin immer die Neue und die Komische. Darauf kann ich verzichten“, schniefe ich. „Und was möchtest du später mal machen? Für immer Zirkus?“, fragt die Frau. Mein Handy vibriert, meine Mutter. Ich halte der Frau das Display entgegen, sie nickt, ich hebe ab.

    Als ich auflege, ist die Frau weg. Ich konnte mich gar nicht verabschieden, weil ich so viel weinen musste, als meine Mutter fragte, was los sei. Ich habe ihr gesagt, dass ich keine Tiere quälen möchte, sie meinte, wir reden später, sie hat jetztkeine Zeit. Lustlos schleppe ich mich Richtung Schützenplatz, auf dem unser Zelt und die Wohnwagen stehen. Die Frau war so erstaunt, dass ich nicht mehr zur Schule gehen werde, dabei hasse ich die Schule. Ich bin froh, dass ich jetzt 16 bin, die zehnte Klasse noch hinter mich bringe und das war’s für mich. Aber ein Leben lang Zirkus klingt gar nicht mal so gut. Ich hasse das ständigeWeggerissenwerden und nie Freundinnen finden, ich möchte ankommen. Mein Bruder hat’s gut, der hat Lena und die reist mit uns mit, seit sie von Zuhause abgehauen ist. Ich wär gern wie sie, so mutig und hübsch und in der Lage, jemandem den Kopf zu verdrehen. Mich haben alle ignoriert und jetzt hassen sie mich, sogar Toni, mit der ich mich gut verstanden habebisher. Und das alles wegen Tierquälerei, dabei lieben wir doch die Tiere. Am Schützenplatz angekommen, nehme ich mir vor, meine Eltern zur Rede zu stellen. Wenn sie wirklich Tiere quälen, bin ich raus. Den Gedanken, dass die Alternativean irgendeiner Schule ohne meine Eltern in der Nähe Abizumachenist, schüttle ich aus meinem Kopf, bevor er zu Ende formuliert ist.

    Ich öffne die Tür zu unserem Wohnwagen und sehe zuerst Lena. „Überraschung!!“, ruft es aus dem Innenraum. Ich merke, wie mir das Blut ins Gesicht schießt und Tränen sich in meinen Augen sammeln. „Oh“, bringe ich heraus und starre auf den Boden, damit niemand meine Scham sieht. Fast alle aus dem Zirkus sind da, Luigi und Lotte stehen hinter meinem Bruder und sogar der kleine Oskarist dabei und hält mir ein selbstgemaltes Bild hin. Seine Eltern, Marie und Jakob,werden bald unser Team verlassen, um „sesshaftzu werden“. Vielleicht 

    können sie mich mitnehmen, denke ich, wische mir unauffällig über die Augen und setze mein schönstes Fake-Lächeln auf. 

    Der letzte Bissen Benjamin-Blümchen-Torte landet in meinem Mund und ich bin zufrieden. Ich schaue durch die Runde, die sich mittlerweile vergrößert und deshalb vor den Wohnwagen verlagert hat, und blicke in dieeinzigen vertrauten Gesichter, die ich in meinem Leben kenne. Wenn es sich so anfühlt, seit der ersten Klasse mit denselben Leuten im Unterricht zu sitzen, verstehe ich, wieso viele aus meiner Stufe so selbstbewusst sind. Dafür habe ich diese Familie und diebesteht nicht nur aus Eltern und Bruder, sie besteht aus denMenschen, die heute mit mir meinen Geburtstag feiern.Viele von ihnen hateine traurige Geschichte zum Zirkus gebracht. Wenn das hier meine Geschichte ist, bin ich doch ganz gut dran. 

    Ich sitze mit Oskar auf unserer Couch, die nachts zum Bett meines Bruders wird, und wir lassen uns einen Ball zukullern. Draußen schreit der Esel und Jay, einer unserer Hunde, fängt an zu bellen. Ich lege den Ball weg, sage „schön sitzen bleiben, ich bin gleich wieder da“ zu Oskar und trete nach draußen. Die Erwachsenen sind alle nicht da, die meisten sind Bier und Wein kaufen gefahren, die anderen kochen in ihren Wagen und mein Bruder ist mit Lena den Sprinter„tanken“, also knutschen, gefahren. Mein Herz klopft bis in meinen Kopf rein, als ich über den Schotterplatz laufe. Irgendwas stimmt mit dem Esel nicht, es klingt, als wäre jemand bei ihm. Ich leuchte mit meiner Handytaschenlampe Richtung Stall und werde schneller. Ich habe keine Waffe, ich werde den Esel mit meinem Körper verteidigen müssen, das macht mir Angst. Plötzlich höre ich eine bekannte Stimme. „Ne, so klappt das nicht, Linus, geh du mal auf die andere Seite“, sagt sie. Ich zittere vor Aufregung und Wut, als ich auf sie zugehe. „Was soll das hier?“, sage ich laut, aber meine Stimme klingt kratzig und viel zu hoch. Die Personen, die ich jetzt als Leute aus meiner Klasseerkenne, erstarren. 

    Die erste, die sich traut, zu sprechen, ist Luisa. „Wir retten eure Tiere, weil man das von euch ja nicht erwarten kann“, zickt sie mich an. Meine Augen füllen sich zum hundertsten Mal heute mit Tränen, diesmal vor Wut. „Ihr könnt doch nicht einfach unseren Esel klauen?“, schreie ich, „das ist das Einkommen von meiner Familie, habt ihr da schon mal drüber nachgedacht?“. Hinter Luisa tritt plötzlich Toni hervor. „Du hast ja nichts falsch gemacht, aber die Tiere tun uns halt leid“, sagt sie. Die Tränen laufenmeine Wangen runter und es ist mir egal. „Heute ist mein Geburtstag, bitte lasst mich und meine Familie in Ruhe“, sage ichweinend. 

    Wieder im Wohnwagen, decke ich Oskar mit meiner Häkeldecke zu. Ich versuche, so leise wie möglich zu weinen, als ich Mamas Auto auf den Platz fahren höre. Für heute Nacht habe ich Luisa und ihre Weltrettercrew verscheucht, aber ich bin sicher, dass sie wiederkommen werden.Und vielleicht haben sie Recht damit. Die Tiere sind schon ewig bei uns, nur die Hunde sind noch jung. Wenn ich den Zirkus übernehme, und darüber muss ich noch dringend nachgrübeln, bin ich die letzte Generation hier, die noch Tiere mit durchs Land schleppt. Außer Hunde, die braucht der Zirkus dringend. Die Wohnwagentür geht auf und Lotte betritt den Raum, mit einem dampfenden Topf in den Händen.

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    Berry steht nicht auf

    Seit Tagen ist da diese Schwere auf der Brust, jemand sitzt auf ihr, drückt sich gegen die Knochen und schnürt Berry die Luft ab. Nur wenn sie schläft, ist es auszuhalten, außer sie träumt davon, wie er sie betrügt. Die fiesesten Träume sind aber die, in denen sie kuscheln, was sie ja jetzt nicht mehr machen können, denn Berry hat es beendet. Einen Schlussstrich gezogen, das klingt so leicht und verblödet, als zöge man wahrhaftig einen Strich und alles wäre erledigt. Ne, nichts ist erledigt, Berry muss neu atmen lernen, kann nur noch Podcasts hören, keine Musik mehr und muss die zwanzig Minuten am Tag, an denen sie Nahrung zu sich nehmen kann, ganz genau planen. Zum Glück kriegt man Bananen immer irgendwie runter, denkt Berry. Am vierten Tag sitzt sie mit einer Freundin am See und erzählt von dem Jungen aus dem Ferienlager, der jeden Tag acht Bananen aß, weil er in der Bravo gelesen hat, dass 50 Cent jeden Tag acht Bananen isst. Sie kann lachen und dankbar sein, aber hinter ihrem Skelett sitzt eine rauchige, dichte Mischung aus Angst, Trauer und Einsamkeit, die sich, wenn Berry nicht aufmerksam ist, blitzschnell um alle Organe legt und ihr Blut einfriert. Sie versucht also, sich zu beschäftigen. Nicht zu sehr, man muss auch seine Emotionen atmen lassen, hat die Therapeutin gesagt. Aber sie darf sich beschäftigen und loslassen. 

    Am siebten Tag fährt Berry mit einer Freundin in die Stadt, um eine Ausstellung in einem Tunnel zu besuchen. Die meisten gezeigten Kunstwerke nehmen sie mit in andere Bereiche des Lebens, aber ein Gemälde sticht ihr in Magen und Herz, trotzdem guckt sie ganz genau hin. Ich überleb das schon, sagt sie sich, doch eine halbe Stunde später sitzt sie auf einer Bank neben der Kniebrücke und weint in das T-Shirt ihrer Freundin. Berry braucht einen Bodyguard, jemanden, der solange es geht bei ihr ist, damit sie nur die Nacht überstehen muss. 

    Die zweite Woche ist minimal leichter als die erste, sie muss jetzt nicht mehr jeder Person, die sie trifft, davon erzählen und kann ein Bier trinken ohne, dass es sie nach wenigen Schlucken in die Schattenwelt befördert. Es braucht jetzt mehr als einen Drink, damit Berry ihr Herz schwer in der Brust hängend wahrnimmt und ihre Glieder sich mechanisch langsam bewegen, während die Bäume nach und nach ihr Grün verlieren. Berry geht zur Psychiaterin, um sich ein neues Promethazin-Rezept ausstellen zu lassen und kann wieder einmal täglich etwas festes essen. Sie wacht morgens mit Angst auf und legt sich abends mit Angst nieder, doch dazwischen findet sich immer etwas Hoffnung, in der sie ein paar Stunden verbringt. Sie sieht die Dinge klarer; auch seine Gefühle wurden verletzt und er hat niemanden, er hat doch wirklich niemanden auf der Welt außer Berry. 

    Am elften Tag sitzt sie mit einem nicht-eingeweihten Freund auf einer Bank in ihrer Heimat und sagt, dass eine Beziehung keine Priorität in ihrem Leben hat. Der Freund scheint sich selbst auch anzulügen, denn er sagt, bei ihm auch nicht, wenn’s nicht sein soll, ist das eben so. Wir leben unser Leben und Liebende kommen und gehen, was bleibt ist die Freundschaft. Ein paar Stunden später tanzt sie in einem neu eröffneten Jugendclub und trifft bei einer Raucherpause ein frisch verliebtes Pärchen. Berry fühlt sich, als wäre sie mit dem Gesicht voran gegen eine Betonmauer gelaufen. Der Freund bringt sie nach Hause und erst dort erlaubt sie sich, zu weinen. 

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    Warum denn nicht Schatz?

    Holger ist fuchsteufelswild. Er reißt Sabine das Handy aus der Hand, tut so, als würde er es durchs Parkhaus werfen und sagt bestimmt: “Wenn du so redest, können wir das Ganze auch gleich sein lassen”. Sabine blickt ihn durch ihre toten Augen an und streckt ihre Hand aus. “Gib mir das Handy und hör auf mit dem Scheiß”, sagt sie. Wenn Holger jetzt kleinbeigibt, das weiß er zu hundert Prozent, wird Sabine das immer wieder machen, auf seinen Gefühlen herumtrampeln und mit ihren Kollegen schlafen. Er steigt ins Auto und tut so, als würde er den Motor starten. Sabine verschränkt die Arme, atmet tief aus und rollt mit den Augen, immer diese ganze Dramatik, Holger ist so ein Weichei, denkt sie. Derweil legt Holger den rechten Arm um die Kopfstütze des Beifahrersitzes, er versucht es zumindest, seine Schulter spielt nicht ganz mit. Traurig guckt er nach hinten und sieht Sabine durch die Heckscheibe. Sie sieht aus wie ‘78, als sie sich verliebten, beziehungsweise als er sich verliebte, bei ihr weiß man nie so genau. Sabine zündet sich eine Zigarette an, den rechten Ellbogen auf die linke Hand gestützt, und durchbohrt Holger mit ihrem Blick. Ihr Gesicht fühlt sich ganz kalt an, bis ins Hirn steigt ihr der Frost, sie schüttelt sich leicht. Wie hat dieser Jammerlappen damals gegen Jeff um ihre Hand gewonnen? In keinster Weise erinnert sie sich an irgendeine Zeit, in der Holger attraktiv gewirkt hätte. Vielleicht hatte er mal, vor über zwanzig Jahren, nicht diesen beißenden Mundgeruch, aber Schmetterlinge hat sie noch nie empfunden beim Blick in sein dummes Kötergesicht. Wahrscheinlich habe sie ihn aus Mitleid geheiratet, sagte einmal eine Therapeutin, zu deren Sitzung ihre Chefin sie verdonnert hatte, weil sie mit dem neuen Azubi etwas ruppig umgegangen war. Diese scheiß Millennials sind so verweichlicht, fast so schlimm wie Holger. Mitleid kann es echt gewesen sein, Anstandsfick, Mitleidsheirat, Ärgerehe. Dieser platte Flaum auf seinem Kopf, dieses eklige Muttermal an seiner Wange, die Nasenhaare, die beim Reden flackern, seine dicken Finger, die immer rau sind. Seit Jahren kommt Sabine ihr Mageninhalt hoch, wenn sie zu lange an ihren Gatten denkt. Auf der Arbeit kann sie sich wenigstens ablenken; mit ihrem Kollegen Micha flirten; manchmal geht sie auch mit ihm aus. Sabine ist sich ziemlich sicher, dass Micha eher auf Männer steht (kann sie gar nicht verstehen, das ist doch widerlich), aber Holger regt sich immer so auf, wenn er versehentlich ihre Whatsappnachrichten liest, wenigstens passiert dann mal was in dieser Ehe. Holger sieht so verlassen aus, ganz versunken sitzt er da auf dem Fahrersitz, schaut durch den Rückspiegel zu ihr rüber und versucht, angsteinflößend zu wirken. Traurig, wie er durch sein Leben humpelt, dieser verletzte Hund, dieser stinkende, alternde Köter, niemand nimmt ihn ernst, niemand liebt ihn. Sabine tritt ihre Zigarette aus und steigt ins Auto.

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    Luzie gibt auf

    An einem kalten Morgen im Oktober sitzt Luzie auf ihrem freistehenden Balkon und pustet auf ihren kalten Kaffee. Die Miete ist bald fällig, das Katzenfutter ist leer, doch das beschäftigt Luzie nicht. Die Gesellschaft ist kaputt, denkt Luzie und zündet sich eine Zigarette an. Alle schimpfen über “die da oben”, ziemlich abstrakt, aber irgendwie auch cool. Das zeigt, dass man sich Gedanken macht und einem Dinge noch etwas bedeuten. Ihr Kumpel Johannes zum Beispiel, der macht sich ungeheuer viele Gedanken, deshalb war er auch für sechs Monate in Südamerika und hat verletzte Tiere gepflegt. Da nimmt man auch mal einen Schlangenbiss in Kauf, hat Johannes gesagt, dafür tut man ja auch was Gutes. Luzie hat ein komisches Gefühl im Bauch, aber das ist sicher nur ihre eigene Unsicherheit, vielleicht ist sie auch neidisch auf Johannes, der hat wenigstens was geleistet. Luzie leistet nichts, sie ist nicht systemrelevant und ziemlich dumm. Zu dumm um zu studieren jedenfalls, das haben ihre Eltern immer gesagt und später auch ihre Lehrer. Deswegen arbeitet Luzie an der Kasse einer Tankstelle und sie ist damit zufrieden, denn so hat sie wenigstens was zu tun. Lernen liegt ihr nicht, weil das hat mit Nachdenken zu tun und das kann Luzie nicht. Früher in Mathe hat sie manchmal angefangen zu weinen, weil sie das mit den Brüchen nicht verstanden hat, und dann hat sie Nachhilfe bekommen, aber die Brüche hat sie trotzdem nicht verstanden. Zum Glück gibt es schlaue Menschen wie Johannes und ihre Freundin Maja, die halten die Welt am Laufen, indem sie nachdenken und lernen und ihr Wissen zusammenfassen und im Internet posten. Luzie ist ja auch Bestandteil der Gesellschaft, sie sorgt dafür, dass Autos und LKW vorankommen, weiterfahren können, dass Familien Urlaub in Polen machen und die Bäckereien jeden Morgen frische Brötchen verkaufen können, das ist ja auch schon mal was. Beim letzten Familienessen erzählte ihr Cousin, dass er jetzt Salesmanager sei, und alle waren beeindruckt. Wenn’s um die Arbeit geht, da beschwert Luzie sich nicht, aber sie prahlt auch nicht, sie lächelt, isst Omas Braten und schweigt. Das Reden überlässt man denen, die Ahnung haben, und Ahnung hat Luzie nicht. Schlaue Menschen lesen Bücher, Luzie malt vorm Fernseher. In ein paar Jahren wird sie Hausfrau und Mutter sein, nebenbei an der Tankstelle arbeiten und es wird sie erfüllen, denn dafür wurde sie geboren.

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    Sirenen

    Knöchel war schon lange nicht mehr auf See, sondern hatte sich in einer kleinen Holzhütte in der Nähe vom Strand niedergelassen. So richtig heimelig wurde es für ihn nie, denn Knöchel fühlte sich nur auf dem Meer zuhause. Durch die von Würmern ins dunkle Holz gefressenen Löcher und Gänge blies immer ein wenig Wind in den Wohnraum, was dem Seemann gefiel, da es sich fast wie auf dem Schiff anfühlte. Es war eine Nacht im November, der Wind ließ die kleine Hütte knarzen, das Feuer im Inneren knackte, und Knöchel hatte einen Topf heiße Kartoffelsuppe auf dem Gasherd. Die Freigängerin Kille, die es sich sonst nicht nehmen ließ, durch die Dünen bis hin zur Küste zu streunen, lag träge auf einem Schafsfell vorm offenen Kamin. “Da geht mir doch gleich das Feuer aus”, stöhnte Knöchel in Killes Richtung, “ich geh mal eben neues Holz holen.” Seine schweren Stiefel erzeugten kleine Wellen auf dem Boden, die Kille müde aufschauen ließen. Die Katze war ihm eines Tages zugelaufen und nie wieder abgehauen. Wie fast alle Katzen hielt sie nicht viel von Wasser und erst Recht nicht vom offenen Meer. Gelegentlich brachte sie einen toten Krebs mit nach Hause, aber Knöchel war sich immer sicher, dass die Krebse bereits tot am Strand gelegen hatten, denn Kille war keine große Jägerin. Knöchel schloss die Tür hinter sich und Kille legte ihren Kopf wieder auf ihrem sie umwindenden Schwanz ab. Die Kartoffelsuppe, die bisher friedlich vor sich hin geköchelt hatte, begann zu blubbern, was Kille erneut aufschrecken ließ. Mit angelegten Ohren schaute sie Richtung Tür, wo ein Schatten entlang huschte, deren Bewegungen sie mit den Augen verfolgte. Durch die Türritze war er aufgetaucht, dann nach oben bis zur Decke, die Balken entlang, für das menschliche Auge nicht mehr wahrnehmbar, doch die Katze bewegte ihren Kopf weiter, zum ersten Fenster, die Wand hinunter bis auf Knöchels Bett, unter dem der Schatten sich schließlich verkroch. In dem Moment flog die Haustür auf. Kille rannte auf den Schatten zu, den sie für Knöchel hielt, und geradewegs durch ihn hindurch. Draußen stand Knöchel gerade vor seinem improvisierten Holzlager und überlegte, ob fünf oder sechs Scheite auf seine altersschwachen Arme passten. Als er sich mit sechs Holzscheiten beladen umdrehte, erschrak er, “Was machst du denn hier draußen Kille, es is’ doch viel zu kalt, geh schon rein”, fluchte er. Als die beiden durch die Türschwelle hindurch waren, drehte Knöchel sich mit zusammengekniffenen Augen um; er hatte gedacht, die Tür geschlossen zu haben. Dann knallte diese zu. “Ganz schön usselig, wah”, sagte er daraufhin, “wir machen’s uns jetzt schön hier, Kille.” Die Katze schnurrte und wanderte um seine Beine herum, schmiegte sich an ihn und miaute leise.

    Das Feuer loderte jetzt wieder hell, die Kartoffelsuppe war bis zum letzten Tropfen ausgelöffelt und Knöchel saß mit einer Wolldecke auf dem Schoß, auf der wiederum Kille lag, auf seinem roten Sessel und las. Er wäre wohl beim Lesen eingeschlafen, wenn die Katze nicht plötzlich unruhig aufgeschaut und geknurrt hätte. “Was hast du denn?”, fragte Knöchel seinen kleinen Liebling. Kille fixierte einen Schatten an der Tür, der sich langsam auf die beiden zubewegte. Knöchel streichelte ihr über den Kopf, doch sie ließ sich nicht beruhigen, sprang stattdessen von seinem Schoß und lief zur Tür. Knöchel, in der Dunkelheit doch sehr kurzsichtig, griff nach seiner Brille auf dem Kaminsims und nahm sich den Kerzenleuchter, der daneben stand. “Da is’ doch nichts, Kille”, sagte er ruhig. Trotzdem ging auch er zur Tür, öffnete sie und trat hinaus. “Hallo?”, rief er in den Nebel, der sich stets gegen Mitternacht einstellte. “Siehste, nix, hab ich doch ge-” -”Hallo!” Knöchel erstarrte und Kille versteckte sich hinter seinem Bein. Aus Richtung des Wassers erklang eine helle Frauenstimme. “Wer is’ da?”, rief Knöchel, kniff die Augen zusammen und hielt den Kerzenleuchter am langen Arm von sich gestreckt in die Dunkelheit. “Hallo”, erklang es wieder, “komm näher, ich brauche Hilfe”. Kille lief in die Sicherheit des warmen Hauses und erwartete, dass ihr Seemann dasselbe tat. Doch Knöchels Beine traten Schritt für Schritt weiter in die Dunkelheit, bis seine Silhouette im Nebel verschwand. Kille blieb auf der Türschwelle sitzen und peitschte aufgeregt mit dem Schwanz von links nach rechts auf die Holzdielen. “Wo bis’ du denn, die Hilfe braucht?”, rief Knöchel Richtung Meer. “Hier, noch ein Stückchen”, sang die liebliche Stimme, “gleich hast du’s geschafft”. Knöchel ging weiterhin Schritt nach Schritt, doch der Nebel wurde so dicht, dass er nicht mal mehr seinen Arm samt Kerzenleuchter sehen konnte. Lediglich die drei Flammen winkten ihm zuversichtlich zu. Der Nebel war gar nicht kalt, wie ihm nun auffiel. Er schien ihn zu wiegen, zu umarmen und zuzudecken. Knöchel roch Schwefel und den beruhigenden Duft von brennendem Holz. Er schaute auf den Boden und konnte seine Füße nicht mehr erkennen. Als er wieder aufsah, bließ ihm eine Schwade heißer Luft gegen das Gesicht und er taumelte nach hinten. Um ihn herum wog es sich, die Luft schien sich zu verbiegen und wärmere und kältere Ströme wandten sich um ihn. Knöchel wankte ein wenig, doch er lächelte. Er hörte ein Akkordeon spielen und dann die tiefe Stimme seines Kollegen Uli, die ein Lied anstimmte, das er beinahe vergessen hätte.

     

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    Top 3 der schlechtesten ersten Dates

    „Warte auf mich“, ruft Juliette, während sie die Schnürsenkel ihres linken Schuhs bindet. Anne ist bereits im Treppenhaus, die Tür knallt zu. Juliette sinkt an der Wand entlang zu Boden. Immerhin nicht das schlechteste erste Date, auf dem sie je war, aber sicherlich in den Top 3. In ihrem Kopf flimmern die letzten dreißig Minuten rauf und runter, mit dem unmöglichen Auftrag, den Fehler zu finden. War sie wieder zu nett? In ihrem Gedächtnis ist nichts zu finden, das sie verkackt hätte, diesmal lief alles wie mit diversen Freund:innen und ihrem Therapeuten besprochen; kein Stammeln, keine frechen Fragen, sie war sogar heute Morgen duschen! Juliette geht zum Küchenfenster und schaut raus. Da unten steht sie, vielleicht lässt sie sich ja doch noch überreden, gemeinsam zum Tanzabend zu gehen. Juliette tippt eine Whatsappnachricht und löscht sie wieder. Als sie ihre Wangen heiß und ihre Augen feucht werden spürt, öffnet sie den Kühlschrank, um sich ein Glas Eistee einzuschenken. „Das war mal wieder scheiße“, sagt sie zu ihrer Schildkröte, die dort drin auf einer Salatschale sitzt und eine Gurke beknabbert.

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    weisst.du.schon

     

    Erkältete Füße in Wollsocken verpackt, trotzdem eiskalt, man darf ja nicht mehr heizen sagen die da oben, unter einer nach Weichspüler duftenden Frottee-Bettdecke höre ich Musik, die ich nur höre, wenn ich wahnsinnig werde, und tippe wie wild auf die Tastatur meines Laptops ein. Immer wieder kehrt mein Kopf zurück zu Themen, die ich vermeiden will, dabei gibt die Musik, die aus einer pinken JBL Box tönt, sich alle Mühe, jegliche Gedanken aus diesem Zimmer auszusperren. Mein fucking Zimmer für mich ALLEIN. Zu allem Übel kommt meine Mitbewohnerin gleich nach Hause, um mir von ihrem Getaway in den Harz zu erzählen. Ein Glas Wein wird mir vermutlich dabei helfen, Interesse zu heucheln, aber meine Welt ist das nicht, der Harz, ich bin nicht mal Hartz, ich bin nur Substanzmissbrauch und ALG2. Seit meinem Nervenzusammenbruch vor zwei Jahren konnte ich einiges reparieren, aber habe auch Seiten meiner Selbst verloren, die ich jetzt gut gebrauchen könnte, zum Beispiel die Seite, die es juckt, wenn Bekanntschaften über sich selbst reden. “Da musst du jetzt durch”, zwinkert meine Katze mir vom Fußende des Bettes zu und ich weiß ja, dass sie Recht hat. Also ziehe ich die Bettdecke zur Seite, schiebe meine Füße ins kalte Dunkel und stehe auf. Ein kurzer Blick in den Standspiegel erschüttert mich; in den Spiegel gucken wollten wir doch meiden, ich sehe durchgekaut aus. Die Musik abzustellen übertrifft meine Kompetenzen, deshalb lasse ich den Sänger mit der kratzigen Stimme weiter in den leeren Raum hinein schreien. Ich schaue um die Ecke in den Flur, niemand da, und husche in die Küche. Ein Glas ist zu gut für mich, ich trinke direkt aus der Weinflasche. Saure, brennende Schlucke füllen meinen Magen, der das so gar nicht abkann in letzter Zeit, aber mir egal, ich brauch das jetzt. Dem Kühlschrank entnehme ich noch die angebissene Riesensalami, dann schlurfe ich ins Wohnzimmer, in dem es auch extrem kalt ist; zwei-Kuscheldecken-übereinander-kalt. Kurzer Check, ob ich meinen Atem sehen kann: das immerhin noch nicht. Hier sitze ich jetzt im Dunkeln und warte auf meine Mitbewohnerin, die laut der Stalking-App “Wo ist?” noch 31km entfernt auf irgendeiner Autobahn im Ruhrpott ist. Wenn ich schon mal da bin, stalke ich eben alle meine verknüpften Kontakte durch, was sich als blöde Idee herausstellt, da es im Magen sticht und sogar mein Herz sich unangenehm regt. In letzter Zeit bereue ich es oft, mit meiner Ex-Freundin Schluss gemacht zu haben, aber ich denke, ihr geht es mittlerweile so gut damit, dass eine Kontaktaufnahme noch egoistischer wäre als der Akt des Schlussmachens es war. Bei unserem ersten Treffen haben wir so viel gelacht, dass wir weinen mussten, als wir einen alten italienischen Horrorfilm im Programmkino anschauten. Auf dem Heimweg schickte ich ihr ein selbstgemachtes Meme aus der U-Bahn, um sie zu testen. Den Test bestand sie leicht, indem sie mir ein Meme zurückschickte. Die gesamte Kennenlernphase verarbeiteten wir mit Memes, und auch das Schlussmachen und die Liebeskummerphase wurden so bewältigt. Einmal saßen wir in einer kleinen Kneipe, in der man eigene CDs abspielen durfte, an einem Tisch mit einigen KokserInnen auf ganz nah aneinandergeschobenen Stühlen, ihre rechte Hand auf meinem linken Knie. Berauscht vom Contact High, dem schalen Pils und der anfänglichen Verliebtheit, stand ich grinsend an der Bushaltestelle, als es Zeit war, nach Hause zu fahren. Ihre winzigen Hände waren immer kalt, deshalb hab ich sie immer mit meinen Spinnenfingern festgehalten. An Karneval gingen wir beide als Märchenprinzessin, klebten uns gegenseitig Wimpern auf und küssten uns heimlich am Rande des Dorfplatzes, weil meine halbe Familie homophob ist. Wenn es mir nicht gut ging, durfte ich in ihrem Bett liegen und auf ihrer Leinwand Animal Crossing spielen, während sie mir Matcha Latte und Kartoffeln kochte. Bei einem Ausflug zu ihren Eltern liefen wir händchenhaltend durch eine Großstadt in Rheinland-Pfalz, aßen vegane Burger und fühlten uns wie der erste und letzte Punkt des Universums. Dort kaufte sie mir in einer Buchhandlung, die auch ein Café war, hinter meinem Rücken das schönste Set Tarotkarten, das ich je gesehen hatte. Im Frühling, als ich schon nicht mehr verliebt war, lagen wir zusammen auf einer Wiese am Rhein und alles war schön. Als ich nicht mit ihr reden, sondern in Ruhe lesen wollte, erzählte sie mir immer wieder Geschichten, die ich schon kannte und meine Gefühle reichten nicht aus, ihr das durchgehen zu lassen. Auf einer Party, auf der es ihr nicht gut ging, fiel es mir sehr schwer, bei ihr zu sitzen, weil ich mich viel lieber weiter mit den anderen Gästen unterhalten hätte. Als ich schon wusste, dass ich das bald beenden würde, gingen wir mit meiner Schwester Cocktails trinken und ich hatte sehr schlechte Laune, weil sie dabei war. An dem Tag, als meine Genervtheit den letzten Funken Zuneigung überspielt hatte, setzten wir uns auf eine Steintreppe und führten das unausweichliche Gespräch. Obwohl ich dachte, dass Lesben es schaffen, befreundet zu bleiben, nachdem sie gedatet haben, sahen wir uns danach nur zwei Mal wieder, beide Male ungeplant und unangenehm. Seitdem weiß ich, wieviele rothaarige Frauen mit Locken es in meiner Stadt gibt. Meine Mitbewohnerin steht vor mir mit einer Tüte Mitbringsel aus dem Harz und ich halte die Luft an, um hier und jetzt zu Ersticken. Klappt natürlich nicht, aber sie verschont mich mit Geschichten von ihrem kleinen Ausflug, weil meine Unhöflichkeit unübersehbar ist.