Prosa

Woher er gekommen ist

Woher er gekommen ist, weiß im Dorf niemand. Ihm selbst fällt es schwer, sich an einen Herkunftsort, einen Startpunkt, geschweige denn eine Vergangenheit zu erinnern. Es kann sein, dass sein Name „Oliver“ ist, denn er fiel ihm sofort ein, als die erste Person, auf die er nach seiner Ankunft getroffen ist, ihn danach fragte. Nun nehmen alle im Dorf an, sein Name wäre Oliver, und er kann sie nicht berichtigen, selbst wenn er wollte, also nennt er sich selbst auch so. Heute wird Oliver, wie er also der Einfachheit halber in dieser Geschichte heißen wird, zum Schuster gehen und sich ein paar Lederschuhe anfertigen lassen. Dann wird er die Bäckerei besuchen, um frisches Brot und einen Kirschplunder zu kaufen, und diesen dann auf einer Bank im Park essen. Aber fangen wir von vorne an: Oliver steht auf, wäscht sein Gesicht und geht in die Küche der Familie, die ihn großzügig bei sich wohnen lässt, bis er sich etwas Eigenes aufgebaut hat und allein wohnen kann. Im Gegenzug fegt Oliver den kleinen Hof, führt die beiden Hunde aus und passt an den meisten Nachmittagen auf die 3-jährige Ingeborg auf. Der Vater der Familie, Willi, steht gerade mit einer Kanne Kaffee in der Hand vorm Tisch, als Oliver den Raum betritt. „Moin Oli, auch’n Kaffee?“, fragt Willi mit einem Schwung, dass unserem Protagonisten ganz schwindelig wird. Er nickt und fragt sich, was wohl passiert ist, dass Willi heute so aufgedreht ist. Um die Beine des Tisches schlängelt die Katze ihren Schwanz und miaut. Normalerweise reagiert Willi genervt darauf, aber heute duckt er sich zur Katze und miaut, mit Liebe in der Stimme, zurück. Viola, die fast erwachsene Tochter der Familie, sitzt am Tisch und liest ein Reclamheft, Oliver interessiert der Titel, aber er traut sich nicht nah genug an Viola ran, um ihn lesen zu können, sie kann ganz schön fies sein. Letztes Wochenende wollte er nur wissen, wo es die besten Äpfel des Dorfes gebe, und sie hat ihn ausgelacht mit einem Gesichtsausdruck, der ihm immer noch ohne Vorwarnung vorm geistigen Auge spukt, wenn er mal eine Gedankenpause einlegt. Er setzt sich an den Tisch und Viola rückt ein wenig weg, dabei sitzen sie zwei Armlängen voneinander entfernt. Willi redet über seinen heutigen Auftrag, er wird in die Stadt fahren und dort ein paar wichtige Menschen treffen, vermutlich ist das der Grund für seine freudige Stimmung. Oliver ist noch nicht so lange vor Ort, dass das Dorf ihm langweilig erscheint, doch er kann schon erahnen, wie sich der Trott einschleichen muss, sobald man hier sesshaft geworden oder gar aufgewachsen ist. Viola verdreht die Augen, aber Oliver hat nicht gut genug zugehört, um zu verstehen, wieso. Soweit er Einblicke in diese Familie erhalten hat, soll Viola eines Tages den Betrieb ihres Vaters übernehmen und tut gerade alles dafür, dies nicht zu müssen. Sie zieht es in die Großstadt, ihr missfällt das Dorf am meisten von allen, die Oliver bisher kennengelernt hat. Sie möchte studieren, die Welt sehen, sich in einen Gitarre spielenden Veganer verlieben, zumindest nimmt Oliver das an, sie sieht so aus, als wäre das ihr grober Plan. Er würde sie gern fragen, ob sie ihn zum Schuster begleitet, aber die Angst vor ihrer Reaktion macht ihm die Knochen weich. „Was starrst du schon wieder so?“, fragt sie ihn jetzt, das war’s, er schaut schnell auf den Teller vor sich und leert die Tasse Kaffee. „Ich muss dann“, sagt er in den Raum zwischen Vater und Tochter, und verlässt die Küche. Beim Rausgehen hört er, wie Viola mit der Zunge schnalzt, schlägt seinen Kragen hoch und geht durch die Tür. Die Luft ist wärmer als sonst zu dieser Uhrzeit, es wird wohl Frühling, denkt Oliver und gibt seinem Gehirn die Chance, Verknüpfungen an vorherige Frühlinge aufzurufen, leider ohne Erfolg. Den Weg zum Schuster kennt er, wie alle Wege durchs Dorf, von seinen Gassirunden mit Fix und Alle, den beiden Hunden der Familie. Wenn Fix stirbt, werden sie Alle umbenennen müssen, daran denkt er immer, wenn ihm die Hunde in den Sinn kommen. Vor der Tür des Schusters druckst er sich herum, er weiß nicht, ob er sowas schon mal gemacht hat, Schuhe anfertigen lassen. Willi hat ihn dazu überredet, dass ein guter Geschäftsmann ein gutes Paar Schuhe braucht, die Idee klang plausibel, aber jetzt, wo er hier steht, kommt es ihm albern vor. Da öffnet sich die Tür von innen und ein älterer Herr begrüßt ihn mit „Hereinspaziert, was darf’s sein?“. „Ich brauche Schuhe, Lederschuhe, ich wollte die anfertigen lassen“, bringt Oliver hervor und betritt den Laden. Der Geruch von Schuhen und verschiedenstem Leder bringt etwas in einem hinteren Gang seines Hirns zum Klingeln, aber er kann dem jetzt nicht nachgehen, er muss handeln. Er setzt sich auf eine weiche Bank und lässt sich die Füße ausmessen. Der Schuster scheint mit sich selbst zu reden, oder Oliver hat noch zu wenig Ahnung von den Gepflogenheiten einer Konversation, jedenfalls sagt er nichts und lässt den Alten vor sich hin flüstern. Irgendwann scheint er fertig zu sein und sagt Oliver, er könne seine Schuhe nächste Woche abholen. Das ging schnell und war weniger aufregend als gedacht, denkt Oliver und wünscht dem Alten einen schönen Tag. Schräg gegenüber dem Schusterladen entdeckt er eine Bäckerei, die ihm noch nie aufgefallen ist und betritt sie. Der Duft nach Brot macht leider nichts mit ihm, dafür erinnert er ihn daran, dass er sich gleich Zeit nehmen muss, um über den Schuhgeruch nachzudenken. Er entscheidet sich für ein Brot und einen Kirschplunder, weil er denkt, dass er Kirschen mag und wünscht der Bäckereifachverkäuferin einen schönen Tag. Seine Füße tragen ihn in den Park, in dem er die Hunde immer ableint, damit sie ein wenig rennen können. Heute ohne Hunde, setzt er sich auf eine Bank und beobachtet die Enten, die im kleinen, verdreckten Teich umherschwimmen. Ohne, dass er es unterbinden kann, wandern seine Gedanken zu Viola, das machen sie oft, und ihm wird ganz unangenehm heiß dabei, als könnte ihn jeden Moment jemand dabei erwischen, wie er sich vorstellt, dass sie ihn einmal liebevoll statt vernichtend anlächelt. Niemand weiß genau, wie alt Oliver ist, aber er wird höchstens zwei Jahre älter sein als Viola. Ihm kommt es jedoch so vor, als wäre Viola die ältere, sie scheint so gefestigt zu sein, sich ihrer Identität und Außenwirkung so bewusst, dass Oliver sich schämt, wenn sie sich im selben Raum aufhalten. Oliver packt das Teilchen aus der Bäckereitüte, zwingt sich, an den Schuhgeruch zu denken und beißt ein Stück ab. Schuhe, Leder, irgendwie holzig, worauf könnte es hinweisen, dass dieser Geruch etwas mit ihm macht? Vielleicht war er selbst Schuster, oder sein Vater ist einer, oder er wohnt über einem Schuhgeschäft? Oliver reibt sich die Augen und versucht, sich den Geruch vorzustellen. Eine Sehnsucht überkommt ihn, er vermisst eine Familie, von der er überhaupt nichts weiß, er vermisst es, dazuzugehören. Sein Hals wird eng und seine Augen brennen. Der Ententeich verschwimmt vor seinen Augen und er atmet schwer. Er beißt noch einmal vom Plunder ab und versucht, die Geschichte seiner potenziellen Familie weiter zu erkunden, sein Gesicht juckt. Ob er wohl Geschwister hat? Im Alter von Viola oder vielleicht älter als er? Leben seine Großeltern wohl noch? Sein Mund ist trocken und sein Hals wird enger, er schafft es nicht mehr, durchzuatmen. Ein bedrückendes Gefühl breitet sich in seiner Brust aus. Sind seine Eltern zusammen, sind sie geschieden, lieben sie sich? Sein Arm sinkt neben ihn auf die Bank, der Kirschplunder liegt nur noch locker in seiner Hand. Spielt sein Vater eine präsente Rolle in seinem Leben? Es fühlt sich an, als würde er nur noch durch ein winzig kleines Loch atmen können. Er schließt die Augen. Sein Hals verengt sich. Aus der Hand fällt das süße Gebäck auf den Boden, eine Ente läuft darauf zu und beginnt, es zu zerteilen.

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