Sirenen
Knöchel war schon lange nicht mehr auf See, sondern hatte sich in einer kleinen Holzhütte in der Nähe vom Strand niedergelassen. So richtig heimelig wurde es für ihn nie, denn Knöchel fühlte sich nur auf dem Meer zuhause. Durch die von Würmern ins dunkle Holz gefressenen Löcher und Gänge blies immer ein wenig Wind in den Wohnraum, was dem Seemann gefiel, da es sich fast wie auf dem Schiff anfühlte. Es war eine Nacht im November, der Wind ließ die kleine Hütte knarzen, das Feuer im Inneren knackte, und Knöchel hatte einen Topf heiße Kartoffelsuppe auf dem Gasherd. Die Freigängerin Kille, die es sich sonst nicht nehmen ließ, durch die Dünen bis hin zur Küste zu streunen, lag träge auf einem Schafsfell vorm offenen Kamin. “Da geht mir doch gleich das Feuer aus”, stöhnte Knöchel in Killes Richtung, “ich geh mal eben neues Holz holen.” Seine schweren Stiefel erzeugten kleine Wellen auf dem Boden, die Kille müde aufschauen ließen. Die Katze war ihm eines Tages zugelaufen und nie wieder abgehauen. Wie fast alle Katzen hielt sie nicht viel von Wasser und erst Recht nicht vom offenen Meer. Gelegentlich brachte sie einen toten Krebs mit nach Hause, aber Knöchel war sich immer sicher, dass die Krebse bereits tot am Strand gelegen hatten, denn Kille war keine große Jägerin. Knöchel schloss die Tür hinter sich und Kille legte ihren Kopf wieder auf ihrem sie umwindenden Schwanz ab. Die Kartoffelsuppe, die bisher friedlich vor sich hin geköchelt hatte, begann zu blubbern, was Kille erneut aufschrecken ließ. Mit angelegten Ohren schaute sie Richtung Tür, wo ein Schatten entlang huschte, deren Bewegungen sie mit den Augen verfolgte. Durch die Türritze war er aufgetaucht, dann nach oben bis zur Decke, die Balken entlang, für das menschliche Auge nicht mehr wahrnehmbar, doch die Katze bewegte ihren Kopf weiter, zum ersten Fenster, die Wand hinunter bis auf Knöchels Bett, unter dem der Schatten sich schließlich verkroch. In dem Moment flog die Haustür auf. Kille rannte auf den Schatten zu, den sie für Knöchel hielt, und geradewegs durch ihn hindurch. Draußen stand Knöchel gerade vor seinem improvisierten Holzlager und überlegte, ob fünf oder sechs Scheite auf seine altersschwachen Arme passten. Als er sich mit sechs Holzscheiten beladen umdrehte, erschrak er, “Was machst du denn hier draußen Kille, es is’ doch viel zu kalt, geh schon rein”, fluchte er. Als die beiden durch die Türschwelle hindurch waren, drehte Knöchel sich mit zusammengekniffenen Augen um; er hatte gedacht, die Tür geschlossen zu haben. Dann knallte diese zu. “Ganz schön usselig, wah”, sagte er daraufhin, “wir machen’s uns jetzt schön hier, Kille.” Die Katze schnurrte und wanderte um seine Beine herum, schmiegte sich an ihn und miaute leise.
Das Feuer loderte jetzt wieder hell, die Kartoffelsuppe war bis zum letzten Tropfen ausgelöffelt und Knöchel saß mit einer Wolldecke auf dem Schoß, auf der wiederum Kille lag, auf seinem roten Sessel und las. Er wäre wohl beim Lesen eingeschlafen, wenn die Katze nicht plötzlich unruhig aufgeschaut und geknurrt hätte. “Was hast du denn?”, fragte Knöchel seinen kleinen Liebling. Kille fixierte einen Schatten an der Tür, der sich langsam auf die beiden zubewegte. Knöchel streichelte ihr über den Kopf, doch sie ließ sich nicht beruhigen, sprang stattdessen von seinem Schoß und lief zur Tür. Knöchel, in der Dunkelheit doch sehr kurzsichtig, griff nach seiner Brille auf dem Kaminsims und nahm sich den Kerzenleuchter, der daneben stand. “Da is’ doch nichts, Kille”, sagte er ruhig. Trotzdem ging auch er zur Tür, öffnete sie und trat hinaus. “Hallo?”, rief er in den Nebel, der sich stets gegen Mitternacht einstellte. “Siehste, nix, hab ich doch ge-” -”Hallo!” Knöchel erstarrte und Kille versteckte sich hinter seinem Bein. Aus Richtung des Wassers erklang eine helle Frauenstimme. “Wer is’ da?”, rief Knöchel, kniff die Augen zusammen und hielt den Kerzenleuchter am langen Arm von sich gestreckt in die Dunkelheit. “Hallo”, erklang es wieder, “komm näher, ich brauche Hilfe”. Kille lief in die Sicherheit des warmen Hauses und erwartete, dass ihr Seemann dasselbe tat. Doch Knöchels Beine traten Schritt für Schritt weiter in die Dunkelheit, bis seine Silhouette im Nebel verschwand. Kille blieb auf der Türschwelle sitzen und peitschte aufgeregt mit dem Schwanz von links nach rechts auf die Holzdielen. “Wo bis’ du denn, die Hilfe braucht?”, rief Knöchel Richtung Meer. “Hier, noch ein Stückchen”, sang die liebliche Stimme, “gleich hast du’s geschafft”. Knöchel ging weiterhin Schritt nach Schritt, doch der Nebel wurde so dicht, dass er nicht mal mehr seinen Arm samt Kerzenleuchter sehen konnte. Lediglich die drei Flammen winkten ihm zuversichtlich zu. Der Nebel war gar nicht kalt, wie ihm nun auffiel. Er schien ihn zu wiegen, zu umarmen und zuzudecken. Knöchel roch Schwefel und den beruhigenden Duft von brennendem Holz. Er schaute auf den Boden und konnte seine Füße nicht mehr erkennen. Als er wieder aufsah, bließ ihm eine Schwade heißer Luft gegen das Gesicht und er taumelte nach hinten. Um ihn herum wog es sich, die Luft schien sich zu verbiegen und wärmere und kältere Ströme wandten sich um ihn. Knöchel wankte ein wenig, doch er lächelte. Er hörte ein Akkordeon spielen und dann die tiefe Stimme seines Kollegen Uli, die ein Lied anstimmte, das er beinahe vergessen hätte.
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