Pflanze, Buch über Virginia Woolf und Schale

Rezension Virginia Woolf

Buchrezension zu Virginia Woolf – Die Auswirkungen sexuellen Mißbrauchs auf ihr Leben und Werk von Louise DeSalvo (1989, deutsche Ausgabe 1994)

 

Wenn wir an Virginia Woolf denken, kommen uns verschiedene Schlagwörter in den Sinn. Gedichte, Bloomsbury, vielleicht sogar Selbstmord. Woran vermutlich die wenigsten denken ist, dass Woolf in ihrer Kindheit und Jugend von ihren Halbbrüdern sexuell missbraucht wurde. Die meisten Biografien erwähnen es nur beiläufig oder gar nicht.

Doch Louise DeSalvo hat dieser Zensur mit ihrem Buch „Virginia Woolf – Die Auswirkungen sexuellen Mißbrauchs [sic] auf ihr Leben und Werk“ (engl. Originaltitel: The Impact of Childhood Sexual Abuse on Her Life and Work) ein Ende gesetzt. Sie deckt auf, wieviele Anzeichen und Hinweise es in Woolfs Leben und Werk darauf gegeben hat, dass sie und ihre Schwestern Opfer von Inzest waren.

Allgemein

Dabei geht sie chronologisch vor und beginnt mit den ersten Aufzeichnungen Virginia Stephens. Dass DeSalvo sich von kindlichen Tagebucheinträgen über die ersten Kurzgeschichten bis hin zu Woolfs in ihren letzten Lebensjahren verfassten Memoiren durcharbeitet, wirkt sich positiv auf die Glaubwürdigkeit der geschilderten Übergriffe aus. Wer hier daran zweifelt, was Virginia und ihre Schwestern erlebt haben, der zweifelt nicht an DeSalvo, sondern glaubt den Opfern von sexueller Gewalt nicht. Die Autorin beschönigt oder dramatisiert nichts, sondern legt lediglich offen, was schon viele Biograf:innen vor ihr hätten bemerken können. Mir fiel es jedenfalls nicht schwer, dem Geschriebenen zu folgen und es als Wahrheit anzunehmen.

Opfern glauben

DeSalvo kritisiert an einigen Stellen ihre Vorgänger:innen, die Woolf eine wilde Fantasie und sogar den Wunsch, vergewaltigt worden zu sein, andichteten. Ebenso wie die Autorin finde ich es merkwürdig, dass die Fakten bisher nicht als wahr angenommen, sondern vertuscht oder verdreht wurden. Allerdings muss auch betont werden, dass das vorliegende Buch aus den 1990er Jahren stammt und die bekanntesten Biografien der britischen Schriftstellerin mehrere Jahrzehnte zurückliegen.

Das Buch ist in drei Oberkapitel eingeteilt. Auf „Ein Familien-Modell“ folgen „Kindheit“ und „Jugendzeit“. Es ist gut strukturiert und dabei spannend zu lesen. Anfangs hatte ich Angst, dass es zu wissenschaftlich geschrieben sein würde, aber die Autorin hat es immer wieder geschafft, mich mit Passagen aus mir vorher unbekannten Texten Woolfs in ihren Bann zu ziehen.

Symbolische Sprache und Trauma

Beispielsweise wusste ich vor der Lektüre nicht, dass die junge Virginia bereits eigene Kurzgeschichten für die Zeitung, die die Stephen-Kinder für ihre Eltern herausbrachten, geschrieben hat. In diesen Geschichten geht es sehr oft um Gewässer wie das Meer, Stürme oder tiefe Seen. Ein Symbol, das sich durch die gesamte Bibliografie Woolfs zieht. DeSalvo untersucht diese Metaphern gründlich auf Hinweise auf Traumata und bringt diese in Verbindung mit dem, was die Psychologie über Opfer von Inzest und sexueller Gewalt weiß. Sie verbindet so Wissenschaft mit künstlerischem Ausdruck, was mir sehr gut gefallen hat.

Auch durch Auszüge aus den Tagebüchern der minderjährigen Virginia gestaltet sich das Sachbuch lebhaft und interessant. Obwohl ich schon einiges an Sekundärliteratur über meine Lieblingsschriftstellerin gelesen habe, konnte ich hier sehr viel Neues erfahren und hatte Zugriff auf Texte, die nie der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Dadurch zeichnet sich dieses Buch für mich als ein Leseabenteuer aus, das mir noch mehr gegeben hat, als ich erwartet hatte.

Triggerwarnung

Trotzdem muss ich eine Warnung aussprechen, da sehr explizit auf sexuellen Missbrauch von Kindern und den plötzlichen Tod von Familienmitgliedern eingegangen wird. Teilweise war es auch schwierig, weiterzulesen, weil ich so sehr mit der jungen Virginia mitgefühlt habe. Der Fakt, dass sowohl sie als auch der Großteil ihrer sieben (Halb-)Geschwister ihr Leben lang unter Depressionen gelitten haben, hat mich berührt. Besonders erschreckend war für mich ein Teil des Buches, in dem DeSalvo von Laura, die Halbschwester der Autorin von Die Wellen, erzählte. Diese wurde von ihren Eltern als anstrengend und geisteskrank eingestuft und nach und nach aus dem gemeinsamen Haushalt verbannt. Als Kind hatte sie keinen Zugang zur Außenwelt und kannte selbst ihre Geschwister kaum, da sie in einem Zimmer am unbewohnten Ende des Hauses eingesperrt war. Dass im viktorianischen Zeitalter der Begriff „Kind“ nicht viel mehr bedeutet hat als „kleine Erwachsene“ war mir bewusst. Aber dass die Misshandlung solche Ausmaße annahm, hat mich schockiert.

Äußerst beeindruckend ist für mich, zu erfahren, dass VW sich aus dieser schweren Kindheit heraus gekämpft und eine Karriere als Schriftstellerin gemacht hat. Auch wenn ihr späteres Leben als Erwachsene immer noch von Restriktionen und Schmerzen erschwert wurde, besaß sie die große Stärke, daraus ihren Feminismus zu ziehen. Sie war damit ihrer Zeit weit voraus, obwohl sie als Kind und Jugendliche nicht die Möglichkeit hatte, sich schulisch zu bilden. Trotzdem lernte sie lesen und schreiben und nahm sich im Alter von 15 Jahren vor, alles aufzuschreiben, was sie erlebte.

Mein Fazit

Für mich als aufstrebende Autorin und Feministin ist dieses Buch eine große Inspiration. Es hat alle Emotionen in mir ausgelöst, die ich zu empfinden fähig bin und mich wieder einmal vom Genie dieser großartigen Kämpfernatur überzeugt.

Durch die enthaltenen Tagebucheinträge und Erzählungen sah ich mein junges Ich in der jungen VW. Mein schriftstellerisches Ich kann sich mit der erwachsenen Virginia identifizieren, die sich nicht unterkriegen ließ und weiterkämpfte. Auch ich wurde Opfer sexualisierter Gewalt und bin sicher nicht die Einzige, die aus solchen Biografien neuen Mut schöpft, sich selbst stark zu machen und den Schmerzen mit kreativer Schöpfung entgegenzuwirken.

Allen Fans von Virginia Woolfs Leben und Werk kann ich dieses Buch nur ans Herz legen. Vor allem für FLINTA* ist es sicher interessant, hinter die Kulissen der so oft als „idyllisch“ bezeichneten Kindheit dieser großen Autorin zu blicken. Es ist ein Buch über kindliche und weibliche Emanzipation, feministischen Kampf und den Mut, am Leben zu bleiben, um seine eigene Geschichte erzählen zu können.