• Prosa

    Tierquälerei oder Abi

    Dann endet also heute meine Schulpflicht. Ich krieche aus meiner Schlafkoje und schlüpfe in die Plüschpantoffeln, die auf dem Boden liegen. Auf dem kleinen Tisch in der Kochnische liegen ein Briefumschlag, eine Rose und ein nicht aufgeblasener Luftballon, der eine große 16 darstellen soll.Euch auch einen guten Morgen. Meine Mutter wird mit den Hunden draußen sein, mein Vater hilft wahrscheinlich schon beim Saubermachen des Zeltinnenraums und meinen Bruder interessiert sowieso niemand außer seiner Lena. Ich gieße mir lauwarmen Filterkaffee in meine Diddl-Tasse, setze mich und öffne den Briefumschlag. 

    Im Bus zur Gesamtschule, die ich seit 2 Wochen besuche, werde ich von allen, die in meiner Stufe sind, angestarrt. Wahrscheinlich wissen sie, dass ich heute Geburtstag habe, Frau Schmiede hat sich verplappert. Ich setze mich neben Toni, die sofort näher ans Fenster rückt und mich irgendwie komisch anlächelt. „Hast du Englisch gemacht?“, frage ich sie. Toni zieht die Schultern hoch und guckt stur aus dem Fenster. Bestimmt hat sie vergessen,Zähne zu putzen. 

    In der Cafeteria kaufe ich mir ein Laugenbrötchen und eine Packung Airwaves und bezahle mit dem 20€-Schein aus dem Briefumschlag. Kauend steige ich die Treppe bis in den zweiten Stock hoch und stelle mich neben Toni, die schon vor dem Englischraum an der Wand lehnt. Wortlos halte ich ihr die Kaugummis hin, doch sie schüttelt den Kopf. „Ist irgendwas?“, frage ich, woraufhin sie wieder mit den Schultern zuckt. Misses Stüttgen schließt uns den Raum auf, ich gehe zu meinem Platz, legemeinen Rucksack auf den Tisch und setze mich. Als ich meinen Kopf hebe, sehe ich, dass jemand „TIERQUÄLER“ auf die Tafel geschmiert hat. „Was soll das, wer war das?“, fragt Misses Stüttgen. „In english please“, kommt es aus der letzten Reihe. Moritz, Klassenclown und Wackelkanditat. „Das richtet sich an eine Person hier“, sagt ein Mädchen vorne rechts, ich glaube, sie heißt Luisa. „In diesem Raum sitzt eine Person, deren Familie Tiere quält.“ Jetzt ist sie aufgestanden, alle schauenzu ihr. „FionasEltern sind dafür verantwortlich, dass Kamele, Esel und Kaninchen eingesperrt werden und Kunststücke vollführen müssen.“ Als mein Name fällt, fühlt es sich an als hätte mir jemand auf die Nase geboxt. „Ich möchte, dass ihr beide das woanders klärt“, sagt Misses Stüttgen. 

    Fast schon rennend verlasse ich das Büro des Schulleiters und ziehe mein Handy aus der Jackentasche. Mit der linken Hand wische ich mir die Tränen von den Wangen, „Hey Siri, ruf Mama an“.Es tutet sechs Mal, dann lege ich auf. Ich gehe zum Steinkreis hinter der Schule und setze mich auf eine der Bänke. Mein Oberkörper zittert, Rotze tropft auf meine Jeans. „Brauchstn Taschentuch?“. Erschrocken blicke ich die ältere Frau an, die vor mir steht und mir eine Packung Kokett hinhält. Ich zwinge mich, zu lächeln und greife nach der Packung. Als ich 

    mich schnäuze, fragt die Frau, ob ich darüber reden möchte. Ich schüttle den Kopf, keuche und fange dann doch an, zu erzählen. 

    „Klingt, als müsstest du da mal mit deinen Eltern drüber reden“, sagt die Frau, als ich ihr von meinem bisherigen Geburtstag berichtet habe. „Hab‘ ich ja versucht, meine Mama geht nicht ran, mein Vater lässt sein Handy eh immer im Wohnwagen liegen und jetzt sitz ich hier“, antworte ich. „Meine Eltern quälen keine Tiere, wir haben halt welche. Die Tiere wären doch sonst auch nur im Zoo und nicht in der Wildnis. Wieso dürfen wir sie nicht trainieren, ich check das nicht“. Die Frau, die mittlerweile neben mir Platz genommen hat, guckt jetzt ernster. „Naja, die Tiere leiden schon, denk ich. Deine Klassenkameradin hat da schon Recht“, sagt sie. „Und was soll ich daran ändern?“, frage ich, „was soll ich machen, wenn ich im Frühling in Vollzeit im Zirkus arbeite, ich soll da Kamelreiten machen, meine Eltern wollen das so!“. „Gehst du dann nicht mehr zur Schule?“ –„Ist mein letztes Halbjahr, bin ja seit heute 16“. Ob ich denn nicht gern weiter zur Schule gehen würde, möchte die Frau wissen. „Die Schule find ich furchtbar. Ständig neue Leute, alle sind gemein, ich bin immer die Neue und die Komische. Darauf kann ich verzichten“, schniefe ich. „Und was möchtest du später mal machen? Für immer Zirkus?“, fragt die Frau. Mein Handy vibriert, meine Mutter. Ich halte der Frau das Display entgegen, sie nickt, ich hebe ab.

    Als ich auflege, ist die Frau weg. Ich konnte mich gar nicht verabschieden, weil ich so viel weinen musste, als meine Mutter fragte, was los sei. Ich habe ihr gesagt, dass ich keine Tiere quälen möchte, sie meinte, wir reden später, sie hat jetztkeine Zeit. Lustlos schleppe ich mich Richtung Schützenplatz, auf dem unser Zelt und die Wohnwagen stehen. Die Frau war so erstaunt, dass ich nicht mehr zur Schule gehen werde, dabei hasse ich die Schule. Ich bin froh, dass ich jetzt 16 bin, die zehnte Klasse noch hinter mich bringe und das war’s für mich. Aber ein Leben lang Zirkus klingt gar nicht mal so gut. Ich hasse das ständigeWeggerissenwerden und nie Freundinnen finden, ich möchte ankommen. Mein Bruder hat’s gut, der hat Lena und die reist mit uns mit, seit sie von Zuhause abgehauen ist. Ich wär gern wie sie, so mutig und hübsch und in der Lage, jemandem den Kopf zu verdrehen. Mich haben alle ignoriert und jetzt hassen sie mich, sogar Toni, mit der ich mich gut verstanden habebisher. Und das alles wegen Tierquälerei, dabei lieben wir doch die Tiere. Am Schützenplatz angekommen, nehme ich mir vor, meine Eltern zur Rede zu stellen. Wenn sie wirklich Tiere quälen, bin ich raus. Den Gedanken, dass die Alternativean irgendeiner Schule ohne meine Eltern in der Nähe Abizumachenist, schüttle ich aus meinem Kopf, bevor er zu Ende formuliert ist.

    Ich öffne die Tür zu unserem Wohnwagen und sehe zuerst Lena. „Überraschung!!“, ruft es aus dem Innenraum. Ich merke, wie mir das Blut ins Gesicht schießt und Tränen sich in meinen Augen sammeln. „Oh“, bringe ich heraus und starre auf den Boden, damit niemand meine Scham sieht. Fast alle aus dem Zirkus sind da, Luigi und Lotte stehen hinter meinem Bruder und sogar der kleine Oskarist dabei und hält mir ein selbstgemaltes Bild hin. Seine Eltern, Marie und Jakob,werden bald unser Team verlassen, um „sesshaftzu werden“. Vielleicht 

    können sie mich mitnehmen, denke ich, wische mir unauffällig über die Augen und setze mein schönstes Fake-Lächeln auf. 

    Der letzte Bissen Benjamin-Blümchen-Torte landet in meinem Mund und ich bin zufrieden. Ich schaue durch die Runde, die sich mittlerweile vergrößert und deshalb vor den Wohnwagen verlagert hat, und blicke in dieeinzigen vertrauten Gesichter, die ich in meinem Leben kenne. Wenn es sich so anfühlt, seit der ersten Klasse mit denselben Leuten im Unterricht zu sitzen, verstehe ich, wieso viele aus meiner Stufe so selbstbewusst sind. Dafür habe ich diese Familie und diebesteht nicht nur aus Eltern und Bruder, sie besteht aus denMenschen, die heute mit mir meinen Geburtstag feiern.Viele von ihnen hateine traurige Geschichte zum Zirkus gebracht. Wenn das hier meine Geschichte ist, bin ich doch ganz gut dran. 

    Ich sitze mit Oskar auf unserer Couch, die nachts zum Bett meines Bruders wird, und wir lassen uns einen Ball zukullern. Draußen schreit der Esel und Jay, einer unserer Hunde, fängt an zu bellen. Ich lege den Ball weg, sage „schön sitzen bleiben, ich bin gleich wieder da“ zu Oskar und trete nach draußen. Die Erwachsenen sind alle nicht da, die meisten sind Bier und Wein kaufen gefahren, die anderen kochen in ihren Wagen und mein Bruder ist mit Lena den Sprinter„tanken“, also knutschen, gefahren. Mein Herz klopft bis in meinen Kopf rein, als ich über den Schotterplatz laufe. Irgendwas stimmt mit dem Esel nicht, es klingt, als wäre jemand bei ihm. Ich leuchte mit meiner Handytaschenlampe Richtung Stall und werde schneller. Ich habe keine Waffe, ich werde den Esel mit meinem Körper verteidigen müssen, das macht mir Angst. Plötzlich höre ich eine bekannte Stimme. „Ne, so klappt das nicht, Linus, geh du mal auf die andere Seite“, sagt sie. Ich zittere vor Aufregung und Wut, als ich auf sie zugehe. „Was soll das hier?“, sage ich laut, aber meine Stimme klingt kratzig und viel zu hoch. Die Personen, die ich jetzt als Leute aus meiner Klasseerkenne, erstarren. 

    Die erste, die sich traut, zu sprechen, ist Luisa. „Wir retten eure Tiere, weil man das von euch ja nicht erwarten kann“, zickt sie mich an. Meine Augen füllen sich zum hundertsten Mal heute mit Tränen, diesmal vor Wut. „Ihr könnt doch nicht einfach unseren Esel klauen?“, schreie ich, „das ist das Einkommen von meiner Familie, habt ihr da schon mal drüber nachgedacht?“. Hinter Luisa tritt plötzlich Toni hervor. „Du hast ja nichts falsch gemacht, aber die Tiere tun uns halt leid“, sagt sie. Die Tränen laufenmeine Wangen runter und es ist mir egal. „Heute ist mein Geburtstag, bitte lasst mich und meine Familie in Ruhe“, sage ichweinend. 

    Wieder im Wohnwagen, decke ich Oskar mit meiner Häkeldecke zu. Ich versuche, so leise wie möglich zu weinen, als ich Mamas Auto auf den Platz fahren höre. Für heute Nacht habe ich Luisa und ihre Weltrettercrew verscheucht, aber ich bin sicher, dass sie wiederkommen werden.Und vielleicht haben sie Recht damit. Die Tiere sind schon ewig bei uns, nur die Hunde sind noch jung. Wenn ich den Zirkus übernehme, und darüber muss ich noch dringend nachgrübeln, bin ich die letzte Generation hier, die noch Tiere mit durchs Land schleppt. Außer Hunde, die braucht der Zirkus dringend. Die Wohnwagentür geht auf und Lotte betritt den Raum, mit einem dampfenden Topf in den Händen.