Seit Tagen ist da diese Schwere auf der Brust, jemand sitzt auf ihr, drückt sich gegen die Knochen und schnürt Berry die Luft ab. Nur wenn sie schläft, ist es auszuhalten, außer sie träumt davon, wie er sie betrügt. Die fiesesten Träume sind aber die, in denen sie kuscheln, was sie ja jetzt nicht mehr machen können, denn Berry hat es beendet. Einen Schlussstrich gezogen, das klingt so leicht und verblödet, als zöge man wahrhaftig einen Strich und alles wäre erledigt. Ne, nichts ist erledigt, Berry muss neu atmen lernen, kann nur noch Podcasts hören, keine Musik mehr und muss die zwanzig Minuten am Tag, an denen sie Nahrung zu sich nehmen kann, ganz genau planen. Zum Glück kriegt man Bananen immer irgendwie runter, denkt Berry. Am vierten Tag sitzt sie mit einer Freundin am See und erzählt von dem Jungen aus dem Ferienlager, der jeden Tag acht Bananen aß, weil er in der Bravo gelesen hat, dass 50 Cent jeden Tag acht Bananen isst. Sie kann lachen und dankbar sein, aber hinter ihrem Skelett sitzt eine rauchige, dichte Mischung aus Angst, Trauer und Einsamkeit, die sich, wenn Berry nicht aufmerksam ist, blitzschnell um alle Organe legt und ihr Blut einfriert. Sie versucht also, sich zu beschäftigen. Nicht zu sehr, man muss auch seine Emotionen atmen lassen, hat die Therapeutin gesagt. Aber sie darf sich beschäftigen und loslassen.
Am siebten Tag fährt Berry mit einer Freundin in die Stadt, um eine Ausstellung in einem Tunnel zu besuchen. Die meisten gezeigten Kunstwerke nehmen sie mit in andere Bereiche des Lebens, aber ein Gemälde sticht ihr in Magen und Herz, trotzdem guckt sie ganz genau hin. Ich überleb das schon, sagt sie sich, doch eine halbe Stunde später sitzt sie auf einer Bank neben der Kniebrücke und weint in das T-Shirt ihrer Freundin. Berry braucht einen Bodyguard, jemanden, der solange es geht bei ihr ist, damit sie nur die Nacht überstehen muss.
Die zweite Woche ist minimal leichter als die erste, sie muss jetzt nicht mehr jeder Person, die sie trifft, davon erzählen und kann ein Bier trinken ohne, dass es sie nach wenigen Schlucken in die Schattenwelt befördert. Es braucht jetzt mehr als einen Drink, damit Berry ihr Herz schwer in der Brust hängend wahrnimmt und ihre Glieder sich mechanisch langsam bewegen, während die Bäume nach und nach ihr Grün verlieren. Berry geht zur Psychiaterin, um sich ein neues Promethazin-Rezept ausstellen zu lassen und kann wieder einmal täglich etwas festes essen. Sie wacht morgens mit Angst auf und legt sich abends mit Angst nieder, doch dazwischen findet sich immer etwas Hoffnung, in der sie ein paar Stunden verbringt. Sie sieht die Dinge klarer; auch seine Gefühle wurden verletzt und er hat niemanden, er hat doch wirklich niemanden auf der Welt außer Berry.
Am elften Tag sitzt sie mit einem nicht-eingeweihten Freund auf einer Bank in ihrer Heimat und sagt, dass eine Beziehung keine Priorität in ihrem Leben hat. Der Freund scheint sich selbst auch anzulügen, denn er sagt, bei ihm auch nicht, wenn’s nicht sein soll, ist das eben so. Wir leben unser Leben und Liebende kommen und gehen, was bleibt ist die Freundschaft. Ein paar Stunden später tanzt sie in einem neu eröffneten Jugendclub und trifft bei einer Raucherpause ein frisch verliebtes Pärchen. Berry fühlt sich, als wäre sie mit dem Gesicht voran gegen eine Betonmauer gelaufen. Der Freund bringt sie nach Hause und erst dort erlaubt sie sich, zu weinen.